Ethische Kybernetik

Wahr-Nehmungen 4

 

Guck mal, wer da denkt

 

 

Was ist Kybernetik? – Wenn Sie bei Wikipedia nachschauen, finden Sie Begriffe wie Prozesssteuerung, Systemtheorie und Rekursivität. Man könnte sagen, Kybernetik beschreibt, wie wir denken und handeln, um eine Aufgabe oder ein Problem zu lösen. Kybernetik begegnet uns jeden Tag, im Privaten, im Beruf, in der Wirtschaft und in der Politik. Meistens ist es uns nicht bewusst, dass wir Kybernetik anwenden, wenn wir den Wochenendeinkauf, den Geburtstag des Kindes, den Urlaub oder einen Autokauf planen. In Wirtschaft, Politik und beim Militär wird Kybernetik bewusst und professionell betrieben. Der Denk- und Handlungszyklus, der bei allen genannten Aufgabenstellungen abläuft, entspricht der Kybernetik der 1. Ordnung (Abb. 1).

1. Ordnung neu

Abb. 1

Nachdem man sich über die Aufgabenstellung klar geworden ist, betrachtet man „die Welt“ der Aufgabe/des Problems und macht eine Situationsanalyse: Wer macht was, wann, wo, womit, gegen wen, was könnten die Anderen vorhaben, wie wird das Wetter, was kostet das, und wer bezahlt u.a. Optionen werden entwickelt und miteinander verglichen. Nachdem man sich für die günstigste entschieden hat, wird diese ausgeplant und umgesetzt. Während und nach der Ausführung vergleicht man das Erreichte mit dem, was geplant war und nimmt die guten wie schlechten Erfahrungen mit in den nächsten Planungszyklus. Wenn man mit dieser Methode an Aufgaben oder Problemstellungen herangeht, wird man (fast) immer zu akzeptablen Lösungen kommen. Das kleine Wörtchen in Klammern weist auf ein universales Problem hin, das in unseren Führungskulturen kaum Beachtung findet. Es gibt Aufgabenstellungen, bei denen die mechanische Anwendung der Kybernetik der 1. Ordnung unverantwortlich und unethisch ist und immer wieder auch zu Katastrophen geführt hat. Kriege und Militäreinsätze der Neuzeit bieten ausreichende Beispiele hierfür. Es hat etwas mit der Art der Fragen zu tun, die man stellt, wenn man Aufgaben- und Situationsanalysen durchführt.

Der Kybernetiker und Philosoph Heinz von Foerster spricht von entscheidbaren und prinzipiell unentscheidbaren Fragen. Eine Frage gilt als entscheidbar, wenn der Rahmen, in der die Frage gehört und die Regeln, die man darin allgemeingültig festgelegt hat, eine Antwort eindeutig vorgeben. Ist die Zahl 67 345 832 durch 2 teilbar ist eine entscheidbare Frage. Fragen, die im Rahmen der Mathematik oder auch der klassischen Physik gestellt werden, gelten als entscheidbar. Als prinzipiell unentscheidbar gelten Fragen, die letztendlich in den Bereich der Metaphysik gehören: Was ist Freiheit? – Was ist Glücklichsein? – Was sind universelle Menschenrechte? – Ist Demokratie die beste Regierungsform? – Können Männer besser Auto fahren als Frauen? – Je nachdem, ob Sie einen Mann, eine Frau, einen Hamburger, einen  Amerikaner, einen Tuareg, einen Aborigines oder einen Taliban fragen, Sie werden unterschiedliche Antworten bekommen.  Die Antwort auf eine prinzipiell unentscheidbare Frage ist nicht so sehr eine Sachauskunft, sondern sagt viel mehr etwas über den Menschen aus, der antwortet. Die Situationsbeschreibungen und Bewertungen, die ein Mensch im kybernetischen Planungs- und Entscheidungsprozess anstellt, spiegeln daher nicht eine von ihm unabhängige Welt wider, sondern immer nur die eigene Welt. Wenn wir also verantwortungsbewusst, ethisch und problemorientiert handeln wollen, müssen wir immer auch den Planer und Entscheider beim Aufgaben- und Problemelösen einbeziehen. Das gilt für die eigene Position genauso wie für alle anderen Beteiligten (am Markt oder im Konflikt). Den Planungs- und Entscheidungsprozess, der den Planer und Entscheider als Teil des Problems mit einbezieht, nennt  Heinz von Foerster die Kybernetik der 2. Ordnung (Abb 2).

 

2. Ordnung neu

Abb. 2

 

Die Einbeziehung der Planer und Entscheider und „ihrer Welt“ als Teil der Problem- oder Aufgabenstellung geschieht über Fragen, wie zum Beispiel: Was läuft in den Hirnen ab, wenn wahrgenommen, gelernt und Wissen erzeugt wird? Welche individuellen, sozialen und kulturellen Muster tragen zur Erzeugung der einzelnen Realitätskonstruktionen bei? Welche Auswirkungen haben diese Muster, wenn jeder im Regelkreis der Kybernetik fühlt, denkt und handelt? Das größte Hindernis, die Kybernetik 2. Ordnung anzunehmen, ist die Blindheit gegenüber der eigenen Blindheit.

„We do not see that we do not see!“So hat es der Neurobiologe Humberto Maturana genannt. Wenn der Vorstand eines Unternehmens eine Marktanalyse macht oder wenn der Einsatzführungsstab der Bundeswehr eine Lagefeststellung zu Afghanistan anstellt, dann sind alle Beteiligten überzeugt, dass sie eine reale Welt wahrgenommen und bewertet haben. Die Fähigkeit, Unmengen von Daten zu sammeln, zu verarbeiten und über „intelligente“ Programme Lösungen zu erzeugen, bestätigen sie darin. Sich selber bei diesem Tun zu beobachten und in Frage zu stellen, findet meistens nicht statt. Es scheint in unseren Hirnen als „illegal action“ blockiert zu werden. Diese Blockade zu lösen, ist die eigentliche Herausforderung. Ein erster Schritt dorthin beginnt mit dem bewussten Umgang von Sprache. Vermeiden Sie Sätze wie: Das ist so! – Sagen Sie stattdessen: Ich sehe das so! – Laden Sie die Menschen in Ihrer Umgebung zu einem kleinen Gesellschaftsspiel ein. Für jedes “Das ist so” muss der “Sprachtäter” einen Euro in eine Gemeinschaftskasse zahlen. Sie werden sich wundern, nicht nur, wie schnell die Kasse sich füllen wird, sondern auch, um wieviel weicher Kommunikation sein kann. KO-Situationen in Konflikten werden vermieden, und die Anzahl der Möglichkeiten für eine Lösung wird zunehmen. Das ist der Grund, warum ich die Kybernetik der 2. Ordnung ethische Kybernetik nenne. Sie ist seit langem fester und unbewusster Bestandteil meines Kommunikationsverhaltens geworden.

Wenn ich mit meinem Gegenüber entscheidbare Fragen diskutiere, argumentiere ich in der 1. Ordnung. Wir „streiten um den „besten“ Weg. Wenn unentscheidbare Fragen das Thema sind, argumentiere ich in der 2. Ordnung. In der Familientherapie wird diese Form der Kommunikation seit Jahren erfolgreich eingesetzt. In der Politik, vor allem in der Außenpolitik, ist sie so gut wie unbekannt. Ich bin überzeugt, dass so mancher Krieg verhindert bzw. beendet werden könnte, wenn in der 2. Ordnung verhandelt werden würde. Sie ist mehr als nur Empathie für den Konfliktpartner. Sie verlangt, das eigene Denken in Frage zu stellen. Sollte ich Sie überzeugt haben, dann wünsche ich Ihnen viel Erfolg bei der Umsetzung, wo immer und mit wem auch immer Sie kommunizieren. Vor allem wünsche ich mir, dass Sie davon anderen erzählen.